Ein großes Geheimnis

„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“
Das ist eine meiner Lieblingsstellen aus dem Buch „Momo – oder – Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.“ von Michael Ende. „Momo“ ist mittlerweile ein Weltbestseller. Es wurde mit dem Deutschen und dem Europäischen Jugendbuchpreis ausgezeichnet und gilt noch immer als Parabel auf unsere Gesellschaft und ihren Umgang mit der Zeit. Michael Ende ist es gelungen mit seinem sagenhaften Werk Kinder wie Erwachsene zu erreichen. Alle die es lesen können etwas mitnehmen und niemand kommt an der Kernbotschaft vorbei, die es in sich trägt: Zeit ist kostbar.
Nach vielen Jahren habe ich das Buch erneut zur Hand genommen und gelesen. Michael Endes Szenerien, von der hinter einem Pinienwäldchen versteckten alten Ruine über die Niemals-Gasse, dem Nirgend-Haus bis hin zum Saal mit den unzähligen Uhren, begegneten mir noch genauso fantasievoll wie damals als Kind. Genau wie ich seine liebevollen Figuren, von der wundervoll verwegenen Momo über die mit ihrem Rückenpanzer sprechende Schildkröte Kassiopeia, dem mit silberweißen Haaren bedeckten Meister Secundus Minutius Hora bis hin zu den bemitleidenswerten grauen Herren, erneut bestaunte. Sie alle sind Teil dieser unglaublich fantasievollen Welt, die Michael Ende in diesem Märchen-Roman geschaffen hat.
Im 12 Kapitel kommt Momo hin, wo die Zeit herkommt und Meister Hora sagt zu ihr: „was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmen. Sie müssen sie auch selbst verteidigen. Ich kann sie ihnen nur zuteilen.
«Momo blickte sich im Saal um, dann fragte sie: »Hast du dazu die vielen Uhren? Für jeden Menschen eine, ja?«
»Nein, Momo«, erwiderte Meister Hora, »diese Uhren sind nur eine Liebhaberei von mir. Sie sind nur höchst unvollkommene Nachbildungen von etwas, das jeder Mensch in seiner Brust hat. Denn so wie ihr Augen habt, um das Licht zu sehen und Ohren, um Klänge zu hören, so habt ihr ein Herz, um damit die Zeit wahrzunehmen. Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben. Aber es gibt leider blinde und taube Herzen, die nichts wahrnehmen, obwohl sie schlagen.«
»Und wenn mein Herz einmal aufhört zu schlagen?«, fragte Momo.
»Dann«, erwiderte Meister Hora, »hört auch die Zeit für dich auf, mein Kind. Man könnte auch sagen, du selbst bist es, die durch die Zeit zurückgeht, durch alle deine Tage und Nächte, Monate und Jahre. Du wanderst durch dein Leben zurück, bis du zu dem großen runden Silbertor kommst, durch das du einst hereinkamst. Dort gehst du wieder hinaus.«
»Und was ist auf der anderen Seite?«
»Dann bist du dort, wo die Musik herkommt, die du manchmal schon ganz leise gehört hast. Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin….
»Meister Hora«, flüsterte Momo, »ich hab nie gewusst, dass die Zeit aller Menschen so …« – sie suchte nach dem richtigen Wort und konnte es nicht finden – »so groß ist«, sagte sie schließlich.
»Was du gesehen und gehört hast, Momo«, antwortete Meister Hora, »das war nicht die Zeit aller Menschen. Es war nur deine eigene Zeit. In jedem Menschen gibt es diesen Ort, an dem du eben warst. Aber dort hinkommen kann nur, wer sich von mir tragen lässt. Und mit gewöhnlichen Augen kann man ihn nicht sehen.«
»Aber wo war ich denn?«
»In deinem eigenen Herzen«, sagte Meister Hora und strich ihr sanft über ihr struppiges Haar.
„Momo“ ist ein Rätsel, das Michael Ende Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen an die Hand gibt und genauso gut ins Heute wie ins Damals passt. Es ist eine Einladung zum Nachdenken und Wundern. Eine Reise in ein Reich der Phantasie, das im Nie und Nirgends liegt oder auch in der zeitlosen Gegenwart.
Eine Träumerin