Wer bin ich?

Vor Kurzem habe ich an einem Meditationsseminar teilgenommen, bei dem uns eine einfache, aber tiefgründige Frage gestellt wurde: „Wer bist du?“ Vier Tage lang dachte ich intensiv darüber nach und beantwortete diese Frage immer wieder neu. Es war ein faszinierender und aufschlussreicher Prozess, der mir half, eine tiefergehende Perspektive auf mich selbst zu entwickeln.
Am Anfang war es leicht. Ich zählte all die üblichen Rollen auf, die wir im Leben spielen: „Ich bin eine Frau, eine Tochter, eine Freundin.“ Doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich mich nur über äußerliche, gesellschaftliche Rollen definierte. Da fehlte etwas – etwas Tiefes, Persönliches, das oft übersehen wird.
Es dauerte einen ganzen Tag, bis ich bemerkte, dass ich ein wesentliches Detail vergessen hatte: Ich bin schwerhörig. Eine Tatsache, die mein Leben prägt, die aber in diesem ersten Reflexionsprozess keinen Raum fand. Warum hatte ich sie nicht erwähnt? Vielleicht, weil ich sie unbewusst in den Hintergrund gedrängt hatte, um mich nicht auf eine „Schwäche“ zu reduzieren. Aber an diesem Punkt des Seminars begann ich, die Dinge anders zu sehen. 
Am zweiten Tag begann ich mit der Aussage: „Ich bin schwerhörig.“ Danach fügte ich weitere Beschreibungen hinzu, wie: „Ich bin freundlich. Ich bin politisch interessiert. Ich bin gerecht.“ Doch dabei wurde mir etwas klar: Viele dieser Eigenschaften waren nicht unbedingt mein eigener Kern, sondern gelernt. Sie wurden mir von anderen vorgelebt, beigebracht oder als Erwartungen auferlegt.
Unsere Kindheit ist oft geprägt von Anpassung. Uns wird beigebracht, wie wir uns verhalten sollen, was wir für richtig halten müssen, abhängig von sozialen, kulturellen oder religiösen Strukturen. In diesen engen Vorgaben sich selbst zu erkennen, ist oft schwierig. Doch durch neue Erfahrungen und Begegnungen außerhalb des gewohnten Umfeldes tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf. Diese neuen Erkenntnisse können erst einmal begeistern, aber der Weg, sich von alten Überzeugungen zu lösen, ist alles andere als einfach. Es fühlt sich an wie eine Reise ins Unbekannte, ohne Landkarte.
Am dritten Tag gelang es mir, eine gewisse Distanz zu mir selbst aufzubauen und mein Denken von außen zu betrachten. Es war, als würde langsam ein Licht aufgehen. „Erkenne dich selbst“ – diese uralte Weisheit, die einst über dem Orakel von Delphi stand, begann für mich eine tiefere Bedeutung zu bekommen. Ich verstand, wie wichtig es ist, sich intensiv mit der Frage „Wer bin ich?“ auseinanderzusetzen. Denn nur wenn ich mich selbst wirklich kenne, kann ich ein Leben führen, das zu mir passt, das sich richtig anfühlt.
 
Wenn ich weiß, wer ich bin, was ich will und wofür ich stehe, habe ich sozusagen einen inneren Kompass, der mich auf meinem Lebensweg leitet. Ich kann Ziele setzen, die mit meinen Werten übereinstimmen und die ich aus Überzeugung erreichen will. Wenn Hindernisse auftauchen, kann ich bewusst entscheiden, ob es sich lohnt, weiterzumachen, oder ob es an der Zeit ist, einen neuen Weg zu suchen.
 
Selbsterkenntnis bedeutet auch, klare Grenzen setzen zu können. Wenn ich weiß, wofür ich stehe, kann ich Position beziehen, wenn etwas nicht mit meinen Überzeugungen übereinstimmt. „Bis hierher und nicht weiter“, kann ich sagen und für meine Werte eintreten – auch gegen Widerstände.

 

Deshalb möchte ich heute mit einer Aufforderung enden: „Erkenne dich selbst. Sei du selbst. Kopiere niemanden, versuche nicht, anderen nachzueifern. Finde heraus, was es bedeutet, du selbst zu sein. Probiere dich und dein Leben aus. Entdecke deine Möglichkeiten und auch deine Grenzen.“
Eine Träumerin