Blinde Flecken
Wer bin ich?“ – Eine Frage, die mich in den letzten Wochen nicht loslässt. Diese Frage hat sich regelrecht in mein Gehirn gebohrt und fragt mich nun bei jeder Gelegenheit: „Und, was hast du jetzt so über dich selbst herausgefunden?“ Tja, was soll ich sagen – nicht alles, was ich entdeckt habe, ist so spektakulär wie erhofft.
„Zunächst dachte ich, ich wäre bestens informiert über mich selbst. Immerhin weiß ich doch, welche Pizza ich am liebsten esse und welcher Typ von Kaffeetrinker ich bin. Aber dann wurde ich auf meine blinden Flecken aufmerksam gemacht. Ich meine diese fiesen kleinen Ecken des Ichs, die man einfach nicht wahrhaben will? Damit habe ich nicht gerechnet. Noch weniger hatte ich damit gerechnet, dass ich meine eigenen Stärken einfach nicht wahrnehme. Klingt komisch, aber das ist tatsächlich so. Ein Talent für Sprache? Klar, das ist mir so selbstverständlich, dass ich es gar nicht als besondere Fähigkeit erkenne. Ich fokussiere mich lieber auf meine Schwächen und versuche diese auszumerzen, als meine guten Seiten zu feiern.
Es gibt eine kleine Stimme in mir, die sich jedes Mal wehrt, wenn ich von meinen Stärken erzählen soll. Diese nervige Stimme sagt dann Dinge wie: „Ich glaube, ich kann ganz gut…“, oder „Darin bin ich gar nicht so schlecht…“. Warum fällt es mir so schwer, einfach zu sagen: „Ja, ich kann das! Und das auch noch richtig gut!“? Ach, die Angst, für eingebildet gehalten zu werden, lässt mich lieber in der Unsicherheit verharren. Was, wenn jemand denkt, ich sei selbstverliebt? Und dabei bin ich doch die, die am liebsten immer nur bescheiden und zurückhaltend sein möchte!
Doch dann gibt es da noch meinen Schatten. Dieser große, dunkle Freund, den niemand so richtig sehen möchte. In der Psychologie beschreibt C.G. Jung den Schatten als all das, was wir an uns selbst nicht sehen wollen – oder noch schlimmer, was wir nicht annehmen wollen. Und glaubt mir, auch ich habe einen Schatten. Einen besonders fiesen, der in Momenten, in denen ich es am wenigsten erwarte, hervorkommt. Ich versuche ihn zwar zu ignorieren, doch er ist da. Er ist „die Erbsenzählerin“ in mir, die ständig alles ganz genau nimmt und bei jeder noch so kleinen Ungenauigkeit nervös wird. Ja, es tut mir leid, ich bin kleinlich. Aber pssst, das darf niemand wissen, oder?
Was, wenn ich mir einfach mal eingestehe, dass ich auch Wut habe und manchmal passiv-aggressiv werde? Ich wünschte, ich könnte immer nur die gelassene, freundliche Person sein, die niemals die Fassung verliert. Aber naja, die Realität sieht anders aus. Und vielleicht ist das auch gut so. Denn was wäre, wenn wir all diese Teile von uns, die wir eigentlich abstoßend finden, einfach akzeptieren würden? Vielleicht könnten wir dann endlich ein Stück weit authentischer leben. Vielleicht es ist sogar befreiend, sich diesen dunklen Seiten zu stellen. Die Erbsenzählerin und die passiv Aggressive dürfen genauso Teil von mir sein wie die gelassene, mitfühlende Person.
Ich habe diese Schattenseiten – und das macht mich nicht weniger liebenswert. Ganz im Gegenteil, finde ich, es macht mich menschlicher. Stellt euch vor, wie es wäre, nichts mehr verstecken zu müssen! Keine Fassaden mehr, keine perfekten Selfies, keine „Alles ist gut“-Märchen. Was, wenn wir einfach mal zugeben, dass nicht immer alles rosig ist? Dass wir auch mal zickig sind, Wut empfinden und vielleicht auch hin und wieder über jemanden lästern? Es würde sich wahrscheinlich ziemlich befreiend anfühlen, oder? Der Körper und die Seele könnten aufatmen, wir könnten entspannen, weil wir keine Energie mehr darauf verschwenden, eine Maske aufzusetzen.