Auf die Haltung kommt es an

Diese ersten sechs Tage im Jänner habe ich schweigend verbracht. Es war für mich eine ganz besondere Erfahrung, der ich manche Einsicht verdanke.
Am 2. Jänner traf ich mich mit 15 mir fremden Menschen, um mit ihnen eine Schweigewoche zu verbringen. Wir waren eine bunt gemischte Gruppe von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters, die sich aus allen möglichen Gründen dafür entschieden hatte, das neue Jahr mit einem Rückzug in die Stille zu beginnen. Zwei mir lieb gewordene Menschen leiteten diese Woche.
 
Zu meiner großen Überraschung gab es dann doch einiges zu hören. Täglich zwei Impulse, die einen nachdenklich machten, angeleitete achtsame Yogaübungen und zu den einzelnen Meditationen immer wieder mal wundervolle Musik.
Es gab einen festgelegten Tagesablauf, der um 7:30 Uhr begann und um 21:15 Uhr endete. Einmal am Tag hatte man ein kurzes Gespräch mit den Kursleitern. Ablenkungen durch Handy, Lesen und Schreiben sollten wir vermeiden.
 
Eine klare Struktur regelte unsere Pausen und Essenszeiten und diese machte mir ordentlich zu schaffen. Wir sollten uns nicht anschauen, folglich war mein Blick entweder auf den Boden gerichtet oder ich blickte ins Leere. Niemanden anzusehen und nicht gesehen zu werden, obwohl man den ganzen Tag auf engsten Raum zusammen ist, war für mich fast nicht auszuhalten. Großer Widerstand regte sich in mir, wenn wir vor unserem Essplatz standen, warteten, bis der Gongschlag ertönte und uns gesagt wurde, was wir zu tun hatten.
Die einen standen stramm wie Soldaten da, die anderen sehr andächtig in sich gekehrt, manche standen wie die Zöglinge eines katholischen Internats vor ihrem Platz. Ich hatte die Schultern nach vorne gezogen und die Hände in den Hosentaschen. Wie unterschiedlich die Haltungen der einzelnen Menschen doch waren. Jeder hatte seine eigene Art zu sitzen, zu stehen, zu gehen. Mir wurde bewusst, dass die Haltung, mit der wir unsere Übungen ausführten, viel über unsere jeweilige Persönlichkeit verriet.
Als wir am Donnerstagabend unsere Gehmeditation im Kreuzgang machten und dabei aneinander vorbeigingen, war plötzlich ein ganz gruseliges Gefühl in mir und ich dachte: Wir sind alle Schlafwandler, so wie wir da einen Fuß bedächtig vor den anderen setzten.
Dieser Gedanke hielt mich lange wach. Bin auch ich eine Schlafwandlerin? Lebe ich nicht wirklich, sondern arbeite ich meine „To-do-Liste“ ab? Mache ich in meinem Leben viel automatisch, ohne nachzudenken, ohne etwas zu fühlen? Mit welcher Haltung gehe ich durchs Leben? In Zeiten, in denen ich über viel Energie verfüge, will ich alles perfekt machen, und in den Phasen der Erschöpfung denke ich mir: „Es ist doch eh alles egal.“
Vieles ging mir in dieser Nacht durch den Kopf. Am nächsten Tag erzählte ich der Kursleiterin von meinem inneren Aufruhr. Sie wollte sich meine Gedanken gar nicht anhören und fragte mich stattdessen: „Was fühlst du?“ Ich erzählte ihr von meinem Herzklopfen, dem Pulsieren in den Fingerspitzen, dem Kribbeln im Solarplexus usw. Sie sagte: „Dies ist das Leben, du bist reif dafür, geh hinaus und mache etwas Verrücktes.“
 
Mit einem spitzbübischen Lächeln ging ich von ihr weg und tanzte auf dem belebten Marktplatz. Es war mir egal, was die Menschen über mich dachten, ich drehte voller Freude meine Runden. Plötzlich fielen mir die Worte von O. Winfrey ein: „Man kann mutig auf der Bühne des Lebens Walzer tanzen und seiner inneren Stimme vertrauen, die einen in die richtige Richtung leitet oder sich eingeschüchtert in eine Ecke zurückziehen, wo Ängste und Selbstzweifel lauern. Und wenn Sie wählen können, ob Sie etwas aussitzen oder ob Sie tanzen, dann tanzen Sie hoffentlich!“
Recht hat sie!
Eine Träumerin