Auf in die Schlucht
Es gibt Orte, die eine geradezu magische Anziehungskraft auf mich haben. Jahr für Jahr besuche ich die Wolfsschlucht, immer wieder aufs Neue bin ich von der Schönheit dieser Landschaft überwältigt. Die gestalterische Kraft des Wassers hat diese Klamm modelliert. Ich finde es faszinierend: „Nichts auf der Welt ist so weich und nachgiebig wie das Wasser und doch bezwingt es das Harte und Starke…“ Die ungeheure Kreativität der Natur kann man hier bewundern: Schäumende Wasserfälle, vom Nass umtoste große Granitblöcke und bizarre Felsformationen sind im Laufe der Jahrtausende entstanden.
Es ist ein mystischer Platz mit Geschichte. Im 19. Jahrhundert war dieser Felseinschnitt Schauplatz heilsamer Anwendungen der damaligen „Kaltwasseranstalt“ von Bad Kreuzen. Von nah und fern pilgerten die Menschen in die Klamm, um hier Kraft für Körper, Geist und Seele zu tanken. Die damals errichteten Badeanlagen aus Holz sind längst verschwunden. Die im Lauf der Zeit ansprechend vom Wasser geformten Becken und Wannen gibt es noch. Schilder erinnern an die Anwendungen: Herren- bzw. Damendusche, die Wiener-Wellen-Bäder, …
Heute führt durch die Wolfsschlucht ein 4,8 Kilometer langer, gut ausgebauter und beschilderter Wanderweg. Viele Stufen führen die Schlucht hinauf. Oben angelangt, gönne ich mir in der Burgschenke der Burg Kreuzen eine kleine Jause und genieße die wunderschöne Aussicht zu den Voralpen.
Mit allen Sinnen lasse ich mich von der Naturlandschaft berühren. Besonders gerne sitze ich auf der Bank, über der „Anton Bruckner-Zuflucht“ geschrieben steht. Es ist ein lauschiges Plätzchen an einem Wasserfall, ein Rückzugsort in wilder Natur, einst für Anton Bruckner und heute für mich.
Ich habe eine ganz tiefe Verbindung zum Wasser. Immer wenn ich einen See, einen Fluss oder ein anderes Gewässer sehe oder höre, sagt eine Stimme in mir: „Geh dort hin, bleibe dort. Das ist ein guter Ort, dort wirst du zur Ruhe kommen.“ Es ist wirklich so, ich werde ruhig, kreativ und fühle, wie ich mich entspanne.
Während ich dem Rauschen des Wasserfalls lausche, beginne ich zu philosophieren. In einem gewaltigen Kreislauf wandert das Wasser rund um die Erde. Mit den Wolken steigt es hinauf in den Himmel, prasselt irgendwann wieder herunter, landet auf der Erde, in den Flüssen und schließlich im Meer. Dieser ewige Kreislauf ist eine perfekte Recyclingmaschine. Ich möchte gerne mitmachen bei diesem großen, weltweiten Spiel der Wandlungen. Träumend werde ich zur Wolke, lasse mich vom Wind mitnehmen und reise frei über die Erde. Irgendwann regne ich herab, sickere in die Erde und lasse mich von den Wurzeln reinigen, um später irgendwann als klare Quelle wieder ans Licht zu kommen, zu fließen und wieder aufzusteigen.
Was man auch bei Wasser wahrnehmen kann: Es will immer von oben nach unten. Es fällt und dringt überall bis zum tiefsten Punkt vor, es findet seinen Weg und es zeigt uns dabei eine unvorstellbare Kraft. Bei diesem Gedanken wird mir auch seine dunkle Seite bewusst: Wer hineinfällt, gerät in Gefahr. Wir ertrinken im Element des Lebens. Es birgt Gegensätzliches: Substanz und dennoch ohne bestimmte Form, still und bewegt, Ursprung und Ende.