Bei sich beginnen – ein Plädoyer für Selbstverantwortung und Aufrichtigkeit
In einer Welt, die von Krisen, Kriegen und Polarisierung geprägt ist, drängt sich eine grundlegende Frage auf: Wo beginnt Veränderung? Die deutsche Schriftstellerin Christa Wolf formulierte eine tiefgreifende Beobachtung, die aktueller kaum sein könnte:
„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen, aufschreiben, in Ton ritzen, in Stein meißeln, aufbewahren für alle Zeit. Was stünde da? … Da stünde: Lass Dich nicht täuschen von den Eigenen!“
Ein aufrüttelnder Gedanke: Nicht die vermeintlich „Anderen“ sind es immer, die uns in Gefahr bringen – oft beginnt das Unheil bei den „Eigenen“. Bei denen, denen wir vertrauen, zuhören, glauben. Doch statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, liegt die eigentliche Herausforderung näher, vielleicht näher, als uns lieb ist: bei uns selbst.
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber bringt es auf den Punkt:
„Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen, und in diesem Augenblick habe ich nichts anderes in der Welt als um diesen Beginn zu kümmern. […] Der archimedische Punkt, von dem auch ich an meinem Orte die Welt bewegen kann, ist die Wandlung meiner selbst.“
Diese Worte sind ein Aufruf zur radikalen Ehrlichkeit. Nur wenn wir bei uns selbst anfangen – in unserem Denken, Reden und Handeln –, kann echte Veränderung entstehen. Alles andere lenkt ab, schwächt die innere Initiative und mündet in Heuchelei. Denn, wie Buber weiter schreibt:
„Der Ursprung allen Konflikts zwischen mir und meinen Mitmenschen ist, dass ich nicht sage, was ich meine, und dass ich nicht tue, was ich sage.“
Diese Diskrepanz zwischen Innen und Außen vergiftet Beziehungen – nicht nur zu anderen, sondern auch zu uns selbst. Wir verlieren uns in Rollen, Erwartungen und Fassaden. Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler bringt diese innere Zerreißprobe eindrucksvoll auf den Punkt:
„Wie Millionen andere lebe auch ich ständig gegen mich. […] Wir schmieden unsere Ketten selbst, unermüdlich, mit Energie und Eifer.“
Wir spielen Rollen wie in einem Theaterstück – sicher, einstudiert, aber ohne Luft zum Atmen. Wir fürchten das Ungewisse, das Echte, das Freie. Denn echte Freiheit ist nicht bequem, sie ist unbequem. Sie fordert Mut.
Und genau hier schließt sich der Kreis zu Immanuel Kant dem Denker der Aufklärung. Schon 1784 schrieb er:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. […] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Doch Kant war nicht naiv: Er wusste, dass Faulheit und Feigheit die größten Hindernisse auf dem Weg zur Mündigkeit sind. Es ist bequem, sich führen zu lassen. Bequem, Verantwortung abzugeben. Bequem, in der Unfreiheit zu verharren – solange sie gut gepolstert ist.
Was also tun?
Die Antwort ist einfach, aber unbequem: Bei sich beginnen. Nicht die Welt retten wollen, bevor wir uns selbst gerettet haben. Nicht über andere urteilen, bevor wir unser eigenes Herz durchleuchtet haben. Nicht täuschen, nicht lügen – vor allem nicht uns selbst.
Es sind harte Worte. Aber sie sind wahr. Und sie eröffnen eine Hoffnung: Wer bei sich beginnt, kann wirklich etwas bewegen – leise, aber nachhaltig. In einer Zeit, in der das Außen laut tobt, ist der Weg nach innen vielleicht der mutigste überhaupt.
Eine Träumerin