Ein Tsunami an Selbstmitleid

 
Und wieder habe ich die ersten Tage des neuen Jahres in Schweigen verbracht. Es tut mir gut, eine Weile in der Stille zu verbringen, mich vom Alltag zurückzuziehen und nur mit mir beschäftigt zu sein. Im letzten Jahr fuhr ich von dieser Schweigewoche euphorisch heim und natürlich hegte ich die Hoffnung, dass es vielleicht auch diesmal wieder der Fall sein würde.
 
Aber weit gefehlt, zwar war ich am ersten Tag noch guter Dinge, während des zweiten Tages wurde ich zunehmend unrund und es fiel mir immer schwerer, mich zu konzentrieren. Beim Abendimpuls wurde ein Vortrag über das Leiden gehalten und  fast augenblicklich  war mein Problem der Schwerhörigkeit in meinem Kopf. Mitleid und Wut stiegen in mir auf, das hatte ich mir nicht verdient, das Schicksal war so ungerecht.
Am folgenden Tag machten wir eine Übung,  bei der man seinen Meditationsplatz umrundete, dann wurde ein Ton angeschlagen und man ging einen Hocker weiter. Beim Wechseln der Plätze gab es Schwierigkeiten, da ich den Ton nicht hörte. Hektisch begann ich die verschiedenen Programme meines Hörgeräts zu aktivieren, trotzdem vernahm ich das Signal nicht. In diesem Moment fühlte ich eine große Welle von Selbstmitleid in mir aufsteigen. Ich werde langsam taub und das kann man nicht schönreden und ich fing zu weinen an, zuerst noch leise. Ich versuchte die Tränen zurückzuhalten, dann aber dachte ich an die Worte der Meditationsleiterin, die gesagt hatte, man solle alle Gefühle willkommen heißen, und ich begann hemmungslos zu weinen. Ich schluchzte, ich schnäuzte mich und bebte. Schließlich flüchtete ich mich auf die Toilette.
Als ich mich beruhigt hatte, kehrte ich zurück. Alle saßen wieder auf ihren Meditationskissen. Zwei schienen sogar leicht zu schweben, aber ich denke, das war eine Täuschung, verursacht durch die Tränen in meinen Augen. Mir war eiskalt und ich fühlte mich leer. Beim täglichen kurzen Gespräch mit der Leiterin der Schweigewoche wurde ich ermutigt, mein Schicksal anzunehmen. Das war ein Satz, den ich gar nicht hören wollte, allerdings erinnerte sie mich auch an meinen Humor.
Als ich von ihr wegging, war mir  ein wenig leichter ums Herz und ich dachte an den Satz: Aufstehen, Krone richten, weitergehen. Was blieb mir denn anderes übrig?  Aber ich konnte mir die Krone nicht auf mein Haupt setzen, denn ich fühlte mich klein, elend und unscheinbar. Da machte sich mein Humor wieder bemerkbar und ich dachte mir: Was tut eine Frau in so einer Situation? Sie geht zum Frisör und lässt sich eine neue Frisur verpassen.
Schweigen hin oder her, ich brauchte einen neuen Style, ich wollte mich schön fühlen. Also betrat ich den Laden meiner Wahl, grüßte höflich und fragte: „Waschen, schneiden, fönen, haben Sie Zeit?“ Als die Frisörin ein Gespräch mit mir beginnen wollte, sagte ich ihr, dass ich gerade eine Schweigewoche machte und nicht reden mochte. Meine Haare wurden kürzer, ich fühlte mich 5 Jahre jünger und mein Gesicht wirkte viel entspannter als in den letzten Wochen. Ich lächelte mich im Spiegel an, bedankte mich freudestrahlend und gab der Frisörin ein gutes Trinkgeld.
Anschließend ging ich wieder meditieren und dachte über die Verwandlung nach. Insgesamt fühlte ich mich besser, weil ich endlich die vielen ungeweinten Tränen geweint hatte. Oder sollte man die therapeutische Kraft eines Frisörbesuchs nicht unterschätzen? In Zukunft werde ich mein Selbstmitleid willkommen heißen und weinen, wenn mir danach zumute ist, denn immer die Haltung zu bewahren, kostet viel mehr Kraft.
Eine Träumerin