Es ist paradox

Vor kurzem hatte ich Grund zu feiern und ging mit Freunden essen. Mit dem Vorsatz, mir etwas besonders Gutes zu gönnen, nahm ich die Speisekarte in die Hand. Ein Steak wollte ich essen, aber welches von der angebotenen Vielfalt? Wie groß sollte das Fleischstück sein und  sollte ich argentinisches  oder österreichisches Rindfleisch bestellen, der Preisunterschied war immerhin 6 Euro. Plötzlich hielt ich beschämt und erschrocken in meinen Überlegungen inne und fragte mich, was ich da gerade machte? Ich, die immer predigte: „Kaufe regional, der Umwelt und der heimischen Wirtschaft zuliebe!“  Ich überlegte gerade ernsthaft, ob ich nicht das billigere, argentinische Steak bestellen sollte. Das nenne ich ein paradoxes Verhalten. Allerdings kann ich bei mir einige widersprüchliche Verhaltensweisen entdecken.
Mich plagen Existenzängste, obwohl ich hier in Österreich lebe,  in einem Sozialstaat, in dem relativer Wohlstand und Sicherheit herrschen. Aber nicht nur mir geht es so, die Angsterkrankungen nehmen in unsere Gesellschaft zu.
Ich wurde, bevor ich auf die Welt kam, schon gesundheitlich abgecheckt. Bei meinem ersten Schrei hat mir Opa bereits mit meinem Bausparvertrag zugewinkt. Keine Straßengang bedroht mich, wenn ich mein Haus verlasse, und einen Krieg habe ich nie erleben müssen. Ich muss nicht befürchten, an Schwindsucht zu sterben, und wir verhungern nicht mehr. Es ist paradox, wie so vieles andere auch.

Demnächst werden viele wieder in den Urlaub fliegen, um dem enormen Leistungsdruck, dem sie ausgesetzt sind, für kurze Zeit zu entkommen. Leider erzeugen sie dabei wieder Stress, wenn sie sich für ihre Reise die heißesten Zeiten des Landes mit den längsten Wartezeiten am Flughafen aussuchen. An ihrem Urlaubsort angekommen, setzen sie sich dem dortigen Passivstress aus, denn das Fitnessprogramm muss sein und das Kulturprogramm auch und das Nichtstun kommt dabei zu kurz.
Wir sagen, Freiheit ist unser höchstes Gut oder zumindest das zweithöchste nach der Gesundheit, aber was tun wir nicht alles, um unfrei zu werden. Ich denke dabei an die ständige Zunahme der Süchte. In der Zeitung lese ich, dass wir von allem abhängig sind: von neuen Drogen, von alten Drogen, jetzt nimmt auch die Abhängigkeit vom Alkohol wieder stark zu, auf Verhaltensweisen, man denke an unseren Umgang mit Smartphone und Internet. Wir tun also alles, um unfrei zu werden.
Vor 30 Jahren wurde das Internet freigeschaltet, seit 15 Jahren haben wir Smartphones und das hat unser Verhalten verändert. Die große Vernetzung hat viele Vorteile gebracht. Wir können Arbeiten auslagern, uns auf einen Klick fast jede Information besorgen und unsere Gedanken anderen mitteilen. Problemlos können wir mit unzähligen Menschen in Kontakt kommen und bleiben. Die Vorzüge  des WWW kosten uns aber auch ein Stück Autonomie. Wir sind ein Teil dieses Netzes und zappeln darin, wir sind zum Teil auch Gefangene dieses Netzes.

Unsere Kommunikationsmöglichkeiten haben sich enorm erweitert und wir haben Probleme, über die Dinge direkt zu sprechen. Wir sind eine sprachlose Gesellschaft geworden, eine zum Teil schweigende Gesellschaft.
Unsere Gesundheit ist uns wichtig, wenn wir aber unsere Lebensweise ansehen, scheint das Gegenteil der Fall zu sein.
Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen, zwischen Gut und Böse zerrissen. Wir bezeichnen uns stolz als rationale Wesen und begehen im nächsten Moment die größten Dummheiten.
Es ist paradox.
Eine Träumerin