„Europamüde“

Eigentlich habe ich gar keine Lust, zur Europawahl zu gehen. Es ist doch eine Scheindemokratie, die in der EU herrscht. Die EU-Kommission ist das Herz und Hirn der EU, und in ihr sitzen 28 Kommissare, die man weder wählen noch abwählen kann. Diese Exekutive untersteht keinem Volk und keiner parlamentarischen Instanz, und damit ist für mich das Urprinzip der Demokratie aufgehoben. Ich kenne kaum die Institutionen des EU-Machtapparats, noch weiß ich, nach welchen Mechanismen sie funktionieren, und dieser gesamte Prozess wird von Menschen beherrscht, die sich niemals einer Wahl stellen müssen. Das nenne ich eine Fassadendemokratie. Wie konnte es so weit kommen?
Im Mai 1945 schlug die Geburtsstunde der europäischen Idee, als die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges sagten: „Nie wieder Krieg!“ Die europäische Geschichte war von ihren frühesten Anfängen bis zum 8. Mai 1945 eine Geschichte von Kriegen mit kurzen Zwischenkriegszeiten. In den Verträgen von Lissabon, jenen Dokumenten, das einer europäischen Verfassung am nächsten kommt, soll vor allem die Wiederkehr des kollektiven Unglücks verhindert werden. Der Nationalismus, der für so viele Kriege und Gräueltaten verantwortlich gewesen war, sollte überwunden werden. Das weltgrößte Programm zur Vereinheitlichung von Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichem Leben begann. Die Leitvokabeln lauteten „Freiheit“, „Gemeinschaft“ und „Harmonisierung“.
Vom ursprünglichen Ziel, einem Europa der Vaterländer, einem Miteinander in Vielfalt, das in der Metapher von den „Vereinigten Staaten von Europa“ seinen Ausdruck gefunden hatte, verabschiedete man sich in Brüssel verabschiedet, ohne dass darüber gesprochen oder gar abgestimmt worden war. Mir scheint, das neue, nie erklärte Ziel ist der europäische Einheitsstaat. Die EU-Kommissare uniformieren und homogenisieren die Glühbirne und den Duschkopf, das Kondom und das Steuersystem.Der letzte Streich war eine EU-Richtlinie, die vorschreibt, dass der Plastikdeckel untrennbar mit der Limonadenflasche verbunden sein muss. Ich habe das Gefühl, in Brüssel versucht man auch unser Alltagsleben zu harmonisieren, in der Richtlinie 2001/45/EG sogar den gesunden Menschenverstand: „Leitern sind so aufzustellen, dass sie während der Benutzung standsicher sind.“ Ist das Gewissenhaftigkeit? Ist es Schikane? Dummheit? Willkür?
Die Gesellschaften werden ohne allzu viel Rücksicht auf regionale Tradition und demokratische Gepflogenheiten zu einem großen Ganzen verdichtet, bis ihre spezifischen Eigenschaften sich annähern oder besser noch sich gleichen. Das neue Europa soll nicht wie früher durch Gewalt, sondern auf dem Verordnungswege verwirklicht werden. Die Bürokratie dominiert die Demokratie, was von unseren Verfassungsvätern so nicht vorgesehen war. Es gibt viele Gründe, das EU-Europa abzulehnen, aber keinen, die europäische Idee zu beerdigen. Sie ist von allen Ideen, die dieser Kontinent in den letzten hundert Jahren hervorgebracht hat, die wertvollste. Sie inspiriert, ermahnt und ermuntert uns auch zum Widerstand gegen ein nur halb-demokratisches System, das sich als alternativlos ausgibt.
Eine Träumerin