In bester Geselllschaft
Wenn ich meine letzte Woche beschreiben wollte, dann würde das eine Wort Überforderung genügen. Ich probiere gerade neue Hörgeräte aus und ich habe dabei das Gefühl, die Welt fliegt mir um die Ohren. Alles ist so laut und klingt ganz anders, als ich es bisher gewohnt war, selbst meine Stimme ist mir fremd. Ich muss neu hören lernen. Auf der Straße brummen Autos und dröhnen Lkw. Im Büro surren Geräte. Auf den Spielplätzen schreien Kinder. Auch bei der Hausarbeit bin ich ständig mit Lärm konfrontiert, der Lärmpegel vom Staubsauger oder von der Küchenmaschine belastet meine Ohren weiter. Ist die Welt wirklich so laut, wie ich sie jetzt höre? Konnten die alten Hörgeräte meinen Hörverlust schon längere Zeit nicht mehr ausgleichen? Ich bin müde und kann nicht mehr klar denken, nachts komme ich nicht zur Ruhe und meine Reizbarkeit steigt. Die Eingewöhnungsphase kann Wochen bzw. auch Monate dauern. Wie soll ich das schaffen? Momentan wirkt alles zu viel und zu anstrengend. Ich bin dabei, den Überblick zu verlieren. Negative Gefühle, Sorgen und Ängste gewinnen die Oberhand und drohen alle Bereiche des Alltags zu bestimmen. Es gibt nur mehr Drama und Chaos um mich herum.
Aber dabei bin ich in bester Gesellschaft, denn es scheint so zu sein, als ob der Mensch im Zeitalter der Überforderung lebt und von einem Kontrollverlust zum nächsten taumelt. Die Banken haben die Kontrolle über ihre Bilanzen verloren. Die Staaten haben die Kontrolle über ihre Außengrenzen verloren. Den Unternehmen scheint es nur mehr um Gewinnmaximierung zu gehen und die Qualität der Produkte wird dabei geopfert. Die Kriege, die der Westen in seinem Namen führt, bringen keinen Frieden, sondern neue Kriege, die setzen wiederum nur immer neue Wanderbewegungen in Gang. Im Nahen Osten tobt ein Flächenbrand und wir sehen hilflos zu. Die ungleiche Verteilung von Vermögen wird beklagt und beschleunigt zugleich. Der Klimawandel wird verstanden und angeheizt. Wir erkennen, dass der Artenreichtum der Tier- und Pflanzenwelt bedroht ist, und er wird mit großer Hemmungslosigkeit weiterdezimiert.
Und die Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik reagieren auf die Zunahme von Konflikten und Komplexität mit einer gefährlichen Ausweichbewegung. Man sucht nicht mehr nach Lösungen, sondern nach einer medientauglichen, gut klingenden Geschichte. Mithilfe sogenannter Experten soll die Wirklichkeit nicht mehr verändert, sondern nur beleuchtet werden. Auf wachsende Komplexität wird mit Reduzierung, Fiktionalisierung, Banalisierung und Emotionalisierung reagiert. Damit sind nicht nur die Menschen und die sie umgebende Natur überfordert, sondern auch die Systeme, die wir geschaffen haben, die Demokratie, die Marktwirtschaft und das internationale Gefüge, das wir „Weltordnung“ nennen.
Ein andauerndes Gehetztsein charakterisiert unsere Alltagskultur. Doch von dem, was gestern noch „dringlich“ erschienen ist, bleiben in der Erinnerung nur die Augenringe und das Gefühl chronisch gewordener Übermüdung.
Nur wer die Überforderung versteht, kann ihr begegnen. Alle Erneuerung beginnt als neues Denken. Wir Menschen dürfen nicht in einen Fatalismus verfallen, sondern wir müssen alle Kraft aufbieten, auf dass sich Angst und Unzufriedenheit in Mut und Hoffnung verwandeln.
Eine Träumerin