Liebestrank

 
Im Schlaf habe ich ihr den Liebestrank ins Ohr geträufelt. Somit wird sie schon beim Aufwachen nicht mehr DIE sein, DIE sie war. Sie wird sich frisch und gestärkt im Bett rekeln, die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen genießen, überrascht einen Tatendrang in sich spüren und bemerken, dass sie ihr Lieblingslied summt. Sie schenkt sich ein bezauberndes Lächeln, als sie ihr Spiegelbild sieht und fährt sich übermütig mit den Fingern durch ihre Locken. Dann entscheidet sie sich, heute einmal so richtig gut zu frühstücken. Als der Kaffeeduft in ihre Nase dringt und der Toast fertig ist, beschließt sie, ihr Frühstück im Wohnzimmer zu verspeisen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Ein herrlicher Morgen denkt sie. Genüsslich kaut sie ihren Toast, der Geschmack der Marillenmarmelade erinnert sie an einen strahlenden Sommertag in der Wachau.
So würde ich gerne den Tag beginnen! Ist dazu wirklich ein geheimnisvoller Liebestrank nötig? Nein, es genügt, wenn man sich einfach lieb hat. Es gibt diese Zeiten, an denen ich aus vollen Herzen sagen kann: „Ich hab mich lieb.“ Es sind wunderbare Tage, an denen ich öfter als sonst ein Lächeln geschenkt bekomme, wahrscheinlich weil auch ich die Menschen anlächle. Die Arbeit geht mir leicht von der Hand und ich mache sie gern. Der Apfel ist knackiger und das Stück Torte schmeckt himmlisch. Die gönne ich mir, denn wenn man sich lieb hat, verwöhnt man sich auch. Selbst der Regen stört mich an diesen Tagen nicht, weil er die Luft sauber wäscht.
Leider hält dieses „Ich-hab-mich-lieb-Gefühl“ nicht für immer an, auch wenn ich es mir wünsche.
Was macht einen Tag von Anfang an zu einem guten Tag? Zu gerne würde ich dieses Geheimnis lüften. Liegt es daran, dass ich ausreichend geschlafen oder schöne Träume gehabt habe. Vielleicht ist es auch die Vorfreude auf etwas ganz Bestimmtes, das dem ganzen Tag Glanz verleiht. Ich begebe mich auf Spurensuche.
Ich bin sehr vielschichtig und neben der Elke, die sich lieb hat, gibt es noch ein paar andere Facetten meiner Persönlichkeit. Ein Beispiel ist  die Antreiberin in mir, der nie etwas gut genug ist, die immer mehr und bessere Ergebnisse sehen will. An diesen Tagen bin ich zickig, verbissen und habe kein Interesse an einem Mitmenschen.
Dann gibt es noch die Faule. Wenn sich diese Stimmung in mir breitmacht, bin ich träge, lustlos und man kann mir nichts recht macht. Manchmal kommt das Kind in mir zum Vorschein. In diesen Zeiten bin ich naiv, verträumt, aber auch trotzig und stelle alles infrage. Eine ganz besondere Facette ist die sinnliche Verführerin. Wenn sie die Hauptrolle spielt fühle ich mich schön, begehrenswert und unwiderstehlich, auf weiteres möchte hier nicht eingehen.

Ich ziehe die Elke, die sich lieb hat, allen andern in mir vor.

Wenn es einen Liebestrank gäbe, der diese Elke so stark macht, dass es fast nur mehr „Lächeln-Tage“ gäbe, dann her damit. Das wäre wahrscheinlich Doping, aber wenn es mir und meinen Mitmenschen zugutekäme, warum nicht?
Eine Träumerin