Sehnsucht – ein gefräßiges Seelenungeheuer

 
Sehnsucht ist dieses Ziehen in der Herzgegend, das ganze Generationen träumerischer Poeten zu hoher Dichtkunst inspirierte. Man kann sich nur nach etwas sehnen, das man nicht hat. Und da es so viele Dinge gibt, die man zu irgendeinem Zeitpunkt des Lebens nicht besitzt, nistet sich die Sehnsucht in unzähligen Verkleidungen in unser Herz ein.
Goethe schrieb zum Beispiel: „Was zieht mir das Herz, was zieht mich hinaus und wendet und schraubt mich aus Zimmer und Haus?“
Natürlich kann einen die Sehnsucht auch in umgekehrte Richtung wenden und schrauben, aus der Ferne nach Hause. Dann heißt sie Heimweh. Sehnsucht ist die Kraft, die Menschen zum Ein- wie auch Aussteigen drängt. Müde Städter träumen von frischer Luft und einem Leben auf dem Lande. Gelangweilte Dorfbewohner zieht es in den Großstadtwirbel. In seinem schwärzesten Gewand, als Todessehnsucht, umgarnt sie den Melancholiker in seinen dunkelsten Stunden. Verlockende Visionen von einem Schlaraffenland lässt es vor den inneren Augen des sinnlichen Genussmenschen entstehen. Als Lust auf Gefahr und Aufregung scheucht die Sehnsucht die Abenteuerlustigen in alle vier Winde. Viele Frauen und Männer nähren in sich den Traum von einem Seelenpartner, auch wenn sie längst im Alltag ihr Ja-Wort gegeben haben. Jedes Mal, wenn die Beziehung glanzlos und kummervoll verläuft, meldet sich die alte Sehnsucht. Irgendwo muss es ihn doch geben, den Menschen, der mich immer versteht, mich niemals im Stich lässt.
Sogar den, der scheinbar alles hat, lässt die Sehnsucht nicht in Ruhe. An ihm nagt sie als die Suche nach irgendetwas Unbestimmtem, Unbekanntem. Wankelmütig und unstet gaukelt  Sehnsucht stets ein neues Ziel vor, auch wenn man eigentlich satt und zufrieden in der Sonne dösen sollte, sie wird zu einer Quelle der Unzufriedenheit. Die einen träumen von der „guten alten Zeit“, die niemals wiederkommt und die es genau betrachtet nie gegeben hat. Die anderen zieht es in eine unbestimmte goldene Zukunft. Doch diese Art der Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem birgt eine Gefahr. Sie vernebelt den Blick für die Wirklichkeit. Währenddessen das Leben tut, was es immer getan hat, es verrinnt. Das macht die Sehnsucht trügerisch und gefährlich.
Völlig zurecht hat die deutsche Sprache den sentimentalen Wort „sehnen“ das verhängnisvolle Wort „Sucht“ angehängt. Denn die Lust am Sehnen und Suchen kann zum bittersüßen Selbstzweck werden. Sehnsucht als Droge und Nährstoff für Weltschmerz und Tagtraum. Sehnsucht, ein Virus, das nicht den Körper, sondern die Seele angreift. Wie soll einen das Leben berühren oder gar erfüllen, wenn man mit dem Herzen und den Gedanken gar nicht da, sondern woanders ist. In seiner Sehnsucht lebt der Mensch ein anderes Leben.
Meine Lebenserfahrung sagt mir: Sehnsucht lässt sich nicht befriedigen!                   
Eine Träumerin