Sehnsucht – ein Wegweiser?

Was wäre ein Leben ohne Sehnsucht? Ganz ohne jenes wehe, schöne Gefühl, das uns immer an das „Anderswo“ erinnert? Ich habe darüber nachgedacht und vielleicht ist es ganz anders, als es den Anschein hat. Vielleicht zieht uns die Sehnsucht nicht so sehr zu einem anderen Menschen oder zu einem anderen Land, sondern zu einem „inneren Ort“, der in uns selbst liegt.
Für den Fernwehkranken geht es vor allen um innere „Weite“, innere Horizonte, die er mangels besserer Einsicht noch immer am anderen Ende der Welt vermutet. Der Luxussüchtige sehnt sich nach innerem Reichtum, jene, die dem Schönheitswahn verfallen sind, sehnen sich vielleicht nach innerer Harmonie. Wer einen fernen Geliebten vermisst, den mag es zwar ganz konkret nach dessen Berührungen und Zärtlichkeiten verlangen, aber egal ob der Geliebte, die Mutter oder eine südliche Landschaft sich als Ziele präsentieren, in der Tiefe geht es um die Erfüllung des Lebens. Darum versucht der Mensch das Defizit, das durch das kurze, schnelle äußerliche Leben entsteht, wenigstens innerlich zu decken.

Diesen „inneren Ort“, zu dem uns die Sehnsucht führt, nennen alle Kulturen einfach Paradies.

Alle Völker haben das Paradies zunächst einmal als ganz konkrete geografische Landschaft beschrieben, als das Land, das alles hat, was sie reale Umwelt nicht bietet: Quellen und Flüsse für Menschen, die in der Wüste leben, Sonne und Wärme für die Menschen des Nordens. Aber niemals hat es das Paradies, nach dem sich alle Menschen sehnen, auf der Erde gegeben.
Und vermutlich wird auch niemals das herbeigesehnte „Goldene Zeitalter“ irgendwo anders ausbrechen als im Innersten der Seele. Wer Sehnsucht nicht als etwas missversteht, das durch irgendein erreichtes Ziel endgültig zum Stillstand gebracht werden kann, kann sich ihr uneingeschränkt anvertrauen. Er bleibt in Bewegung und entwickelt Fantasie. Die Sehnsucht wird zum Wegweiser in die Innenwelt, zum Treibstoff für die Suche nach sich selbst.
Eine Träumerin