Sitzen wie ein Berg

Wenn im Hochsommer die Hitze unerträglich wird, zieht es mich in die Berge. Eine Seilbahn oder Bergbahn bringt mich mühelos zweitausend Höhenmeter hinauf. Beim Aussteigen merke ich schon, ich bin in einer anderen Welt. Die Temperatur ist angenehm, es weht ein belebendes Lüftchen, ich habe einen sensationellen Ausblick auf das Bergpanorama, das vor mir liegt. Hier herrscht eine erfrischende Atmosphäre und ich bin froh, für einen Tag der stehenden Hitze entkommen zu sein. 
Gemütlich wandere ich von einer Almhütte zur anderen. Die Bergwelt beeindruckt mich immer wieder mit ihren sanften Kuppen und schroffen Felsspitzen, dem Grün der Nadelwälder und den kleinen Bergseen. Ich mag die blühenden Almwiesen. Mit etwas Glück erspähe ich auch die eine oder andere Gämse oder ein Murmeltier. Meine Mundwinkel ziehen sich nach oben und der Endorphinspiegel schnellt in die Höhe.
Im Schatten uralter Lärchenbäume ruhe ich mich aus und denke an Goethe, der einst sagte: „Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler.“ Mein Blick schweift tief nach unten in die Täler und ringsum auf die unzähligen Bergspitzen.
Dieser Anblick berührt mich tief in meiner Seele, ich richte mich auf, setze mich gerade hin und werde selbst zum Berg. Mein Kopf wird zum hochaufragenden Gipfel, meine Schultern und Arme werden zu den Bergflanken, mein Gesäß und die Beine bilden die Basis, die mit der Erde verwurzelt ist. Ich sitze da wie ein Berg und spüre die Unerschütterlichkeit, die Zufriedenheit und die tiefe Verwurzelung des Berges. Der Berg ist den ganzen Tag einfach nur da, während die Sonne über den Himmel wandert. Licht und Schatten und alle Farben verändern sich von Augenblick zu Augenblick und der Berg bleibt still.
Die Jahreszeiten wechseln und der Berg bleibt unnachgiebig und still. Das Wetter verändert sich Tag für Tag und der Berg ist still. Stille, die die Veränderungen überdauert. Im Herbst leuchtet der Berg oft in allen Farben und im Winter ist er meist von einer Decke aus Schnee und Eis überzogen. Manchmal ist der Berg von Nebel umhüllt oder Regen prasselt auf ihn nieder. Bergsteiger sind vielleicht enttäuscht, wenn sie den Berg nicht klar sehen können. Doch dem Berg ist das gleichgültig, ob er zu sehen ist oder nicht, ob er im Sonnenlicht liegt oder von Wolken umhüllt wird, ob es glühend heiß oder eiskalt ist. Der Berg ist einfach nur da und er ist er selbst. Manchmal wird er von heftigen Stürmen umtost, doch der Berg ist unerschütterlich. Im Frühling erblühen auf den Berghängen die Blumen und das Schmelzwasser schießt in großen Mengen ins Tal und während all dies geschieht, hört der Berg nicht auf, da zu sein, ohne sich vom Wetter und dem, was auf seiner Oberfläche geschieht, beeindrucken zu lassen.
 
Im Leben erfahre ich in meinem Geist, in meinem Körper und in der äußeren Welt ständig Veränderungen. Ich erlebe Zeiten des Lichts und der Dunkelheit, lebhafter Farben und düsterer Dumpfheit. Ich erlebe Stürme verschiedenster Intensität und Gestalt in der äußeren Welt, ebenso in meinem eigenen Leben und in meinem Geist. Ich stehe Zeiten der Dunkelheit und des Schmerzes durch und genieße Augenblicke der Freude und Hochstimmung. Selbst meine äußere Erscheinung verändert sich ständig. Meine Gedanken und Gefühle, meine emotionalen Stürme und Krisen, selbst die Dinge, die mir passieren, ähneln dem Wetter auf dem Berg und ich neige dazu, das Wetter meines Lebens allzu persönlich zu nehmen und meinen Geist sich darin verwickeln zu lassen.
Der Berg ist für mich ein Symbol für Präsenz, Stabilität und Zuversicht.  Ich sitze wie ein Berg, aufrecht, gerade und voller Kraft, bei jedem Wetter, bei allem, was passiert. Ich hoffe, es gelingt mir, die Stille und Stabilität mit ins Tal, mit in mein Leben zu nehmen.
Inspiriert wurde ich von der Bergmeditation nach Jon Kabat-Zinn.
Eine Träumerin